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ZLR 2017, 661
Mettke 

Die große Verschwendung

Der große Schwund1 – Ein Drittel aller Nahrungsmittel landet nicht mehr auf dem Teller, sondern auf dem Müll. Bei dieser Verschwendung entfällt in Deutschland der größte Teil auf die Verbraucher, nämlich 61 %. Jeder Deutsche wirft pro Jahr 82 Kilogramm Lebensmittel weg. Lebensmittel als solche haben offenbar keinen Wert mehr. Ein Grund dafür mag auch in der absurden Marketingpolitik der Unternehmen liegen, ausgerechnet „Negativ Nutrition“ in das Zentrum ihrer Werbestrategien zu rücken. Die gegen die Lebensmittelwirtschaft gerichtete Konsumerismusbewegung in den 70er und 80er Jahren des vorherigen Jahrhundert hatte mit dem Slogan „Chemie in unserer Nahrung“ die ersten Zweifel an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Nahrungsmitteln propagiert. Die Lebensmittelwirtschaft konnte der Versuchung nicht widerstehen, dieses Thema selbst aufzugreifen mit Angaben wie „ohne Zusatzstoffe“, „ohne Konservierungsstoffe“, „ohne Geschmacksverstärker“, „ohne künstliches Aroma“, „allergenarm“, „ohne Zucker“, „Gluten frei“, „Laktose frei“, „Gentechnik frei“, etc. Auch wenn man damit immer nur die eigenen Produkte in ein besonders günstiges Licht stellen wollte, so ist doch in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, als würden Lebensmittel generell ein erhebliches Gefährdungspotential für die menschliche Gesundheit darstellen. Eine Branche, die zunehmend statt über Ernährung über Ernährungstherapie zur Selbstoptimierung schwadroniert, darf sich nicht wundern, wenn die Verbraucher Achtung und Respekt vor den Lebensmitteln allgemein vermissen lassen und nichts dabei empfinden, diese gedankenlos wegzuwerfen und zu vernichten.

Die Welt von Gestern ist in Vergessenheit geraten.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhundert war noch von Hungerkrisen geprägt. In dem 1. Weltkrieg musste die Bevölkerung mit einer Rationierung der Nahrungsmittel mit immer begrenzteren Zuteilungen leben, die Rationalisierung erfasste alle Grundnahrungsmittel, vor allem auch Fleisch und Milch. Die Knappheit führte seit 1916 zu Nahrungsmittelmangel und Hunger für viele Bevölkerungskreise. Dies hat wie nichts sonst die Menschen in Deutschland zermürbt. Auf dem Verordnungsweg wurden Ersatzlebensmittel wie Ersatzkaffee, Kunsthonig, Ersatzwürste, Teeersatz, künstliche Fruchtsäfte etc. geschaffen.2

Die Hungerkrisen wiederholten sich nach dem 2. Weltkrieg. Aus den zerstörten Städten, in denen der Hunger herrschte, versuchten die Frauen in überfüllten Zügen irgendwie aufs Land zu kommen, um dort ihre Wertgegenstände wie Schmuck, Bilder und Teppiche bei den Bauern gegen Brot und Kartoffeln einzutauschen, um dann am Abend den „heißen Hunger“ von Familien und Kindern wenigstens etwas zu lindern.

ZLR 2017 S. 661 (662)

Wie sich die Zeiten geändert haben, heute ist Ernährung zu einem Element des Lifestyle geworden. Auch das Bild der Konsumenten hat sich geändert. Das Marketing unterscheidet zwischen verschiedenen Gruppen. Zwischen „Quality Eater“, die besonders hohe Maßstäbe an die Lebensmittelqualität stellen, das sind die Gesundheitsbewussten und Gesundheitsidealisten, den „Multioptionalen“ und den „Uninteressierten“, die als leidenschaftslos gelten.

„Diejenigen, die sich als Eliten verstehen, sind schon einen Schritt weiter. Für sie steht nicht mehr der Begriff „Food“ in all seien Varianten von „Slow Food“ bis „Green Food“ im Vordergrund, sondern der neue Begriff „Healthy Wealth“. Er beschreibt einen neuen, auf Gesundheit ausgerichteten Lebensstil, bei dem nicht mehr Produkte die zentralen Statussymbole sind, sondern die eigene Wellness. Das Vermeiden und Vorbeugen von Krankheiten hat einen höheren Stellenwert als deren mögliche spätere Behandlung. Dafür ist man auch bereit, mehr zu bezahlen.

Da alle Trends in der Gesellschaft von oben nach unten durchgereicht werden, kann man also davon ausgehen, dass dieses neue Gesundheitsbewusstsein auch bald in breiten Schichten ankommen wird. Davon werden dann nicht nur die Menschen selbst, sondern auch Dienstleister, Berater und nicht zuletzt die Nahrungsmittelindustrie profitieren.“3

Dies ist eine sehr einseitige Weltsicht. Bekanntlich kommt von „denen da oben“, „bei denen da unten“, wenig bis nichts an. Armut und Entbehrung nehmen in Deutschland wieder zu; zunehmend drängen sich die Hilfsbedürftigen in den Städten an den Lebensmitteltafeln. Selbst in reichen Gemeinden gehen viele Kinder morgens hungrig in Kindergärten und Schulen. Vor diesem Hintergrund ist die gedankenlose Verschwendung von Lebensmitteln auch ein kulturelles Debakel. Für viele ist „Die Welt von Gestern, die Realität von Heute“.

Manche freilich …

Manche freilich müssen drunten sterben,

Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,

Andere wohnen bei dem Steuer droben,

Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern

Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,

Andern sind die Stühle gerichtet

Bei den Sibyllen, den Königinnen,

Und da sitzen sie wie zu Hause.

Leichten Hauptes und leichter Hände.

ZLR 2017 S. 661 (663)

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben

In die anderen Leben hinüber,

Und die leichten sind an die schweren

Wie an Luft und Erde gebunden: […]

Hugo von Hofmannsthal

Rechtsanwalt Thomas Mettke, München

1

Lebensmittel Zeitung, Der große Schwund, 11. August 2017.

2

7. Nachtrag zum deutschen Reichsgesetzbuch – Krieg und Übergang 1919/1920 – Bekanntmachung von Grundsätzen für die Erteilung und Versorgung der Genehmigung von Ersatzlebensmitteln.

3

Peter Brabeck-Letmathe, Ernährung für ein besseres Leben, Frankfurt/New York, 2016, S. 184/185.

 
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