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BB 2023, I
Köllmann 

New Work und Arbeitszeiterfassung – was wir unter “Arbeit” verstehen (wollen)

Abbildung 1

Eine der drängendsten Fragen wird eine gesetzliche Neuregelung nicht beantworten (können): Was ist eigentlich “Arbeit”?

Wann arbeiten wir eigentlich? Als der EuGH im Jahr 2019 in seiner CCOO-Entscheidung eine Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit aus der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) herleitete, war das mediale Echo riesig. Insbesondere die unmittelbare Wirkung der Entscheidung für Arbeitsverhältnisse in Deutschland wurde kontrovers diskutiert. Den deutschen Gesetzgeber schien all das wenig zu berühren und so blieb es bis zuletzt bei politischen Absichtserklärungen zur Flexibilisierung des – seit vielen Jahren reformbedürftigen – Arbeitszeitgesetzes. Erst als das BAG mit Beschluss vom 13.9.2022 (1 ABR 22/21, BB 2023, 760 m. BB-Komm. Ley) die Initiative ergriff und eine Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit unmittelbar aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ableitete (sog. “Stechuhr”-Entscheidung), erwachte auch der Gesetzgeber aus seinem Dornröschenschlaf und legte am 18.4.2023 einen Referentenentwurf zur Anpassung des Arbeitszeitgesetzes vor. Im Kern sollen die Grundsätze des EuGH und BAG umgesetzt und damit in Gesetzesform gegossen werden – alles geklärt also?

Im Gegenteil: Eine der drängendsten Fragen wird eine gesetzliche Neuregelung – egal wie diese im Ergebnis aussieht – nicht abschließend beantworten (können): Was ist eigentlich “Arbeit”? Die Frage ist nicht neu, erlangt aber durch eine generelle Erfassungspflicht und die sich rasant verändernde Arbeitswelt neue Dynamik. Im juristischen Sinn definiert § 2 ArbZG die Arbeitszeit als “Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen”. Nach Art. 2 Abs. 1 Arbeitszeitrichtlinie ist Arbeit jede Zeitspanne, in der ein Arbeitnehmer arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Einen praktischen Problemfall wird man damit nicht lösen können.

Unser Verständnis von “Arbeit” auf der einen und “Ruhezeit” auf der anderen Seite ist zudem stark subjektiv geprägt, was die rechtliche Einordnung noch schwieriger macht: Wenn Sie Beschäftigte im Bürodienst oder auf der Baustelle fragen, ob sie gerade arbeiten, wird die Antwort durchgehend “Ja” sein. Bei der gleichen Frage an Ihre Kollegin beim abendlichen Geschäftsessen mit dem neuen Kunden dürfte das “Ja” schon weniger gewiss sein. Der Geschäftsreisende auf dem Langstreckenflug von Frankfurt nach Bangkok, der den neuen Bestseller-Roman liest, wird die Frage vermutlich verneinen. Und was wird der Einsatztrupp der Feuerwehr sagen, der am Tischkicker in Bereitschaft auf den nächsten Einsatz wartet?

Diese Beispiele zeigen auch die soziokulturelle Dimension der Frage. Wir nehmen Tätigkeiten umso eher als Arbeit wahr, je mehr sie uns belasten. Nun ist die Belastung abhängig von persönlichen Vorlieben und daher ein rechtlich wenig greifbares Kriterium. Dennoch hat das BAG von einem solchen Ansatz Gebrauch gemacht und eine Abgrenzung anhand des Grades der Beanspruchung vorgenommen (vgl. BAG, 11.7.2006 – 9 AZR 519/05, BB 2007, 272, sog. “Beanspruchungstheorie”). Der EuGH nimmt in neueren Entscheidungen – etwa zur Rufbereitschaft – eine Einzelfallbetrachtung vor und fragt insbesondere danach, ob in der jeweiligen Zeitpanne die Freizeit nach den eigenen Wünschen gestaltet werden kann (EuGH, 9.3.2021 – C-344/19, RIW 2021, 523). Ein anderes Kriterium, das Problem bleibt identisch: Ob ich meiner Freizeitbeschäftigung nachgehen kann, hängt von meinen persönlichen Vorlieben ab. Unser Geschäftsreisender wird vielleicht froh sein, wenn alle Geräte in den Flugzeugmodus geschaltet werden und er endlich Ruhe für den neuen Roman hat. Was ist aber, wenn er eigentlich am Wochenende zum Spiel des regionalen Fußballvereins wollte und er Flugreisen sehr belastend findet?

Dass es sich nicht um ein akademisches Problem handelt, zeigt eine aktuelle Entscheidung des VG Lüneburg, wonach Reisezeiten mit der Bahn Arbeitszeit sind, da – so die Pressemitteilung des Gerichts – die Freiheit begrenzt werde, über die Zeit selbst zu bestimmen und daher die europarechtlichen Grundlagen eine von der Beanspruchungstheorie des BAG abweichende Bestimmung des Begriffs der Arbeitszeit erfordern (VG Lüneburg, 3.5.2023 – 3 A 146/22, n. V.).

Aus juristischer Sicht benötigen wir klare Kriterien zur Bestimmung von “Arbeit”. Dabei können und sollten wir uns nicht der Hoffnung hingeben, dass der Gesetzgeber mit einer abschließenden Definition alle Probleme aus der Welt schafft. Dazu sind moderne Arbeitsformen zu vielschichtig und zu dynamisch. Ähnlich wie im Bereich des § 611a Abs. 1 BGB sollten aber Kriterien und Wertungsgesichtspunkte zur Bestimmung des Begriffs im Arbeitszeitgesetz festgelegt werden. Dazu könnte etwa die zeitliche und örtliche Beeinträchtigung, die Häufigkeit der jeweiligen Leistungserbringung, die Anordnung des Arbeitgebers und die Frage zählen, ob die Tätigkeit eher im Arbeitsnehmer- oder im Arbeitgeberinteresse liegt. Ein solcher Kriterienkatalog wird die bestehende Rechtsunsicherheit nicht gänzlich beseitigen, schafft für die praktische Rechtsanwendung aber mehr Transparenz und klarere Leitlinien.

Schließlich bedarf es einer Lockerung des arbeitszeitrechtlichen Rahmens. Insbesondere die zwingende elfstündige Ruhezeit steht in vielen Bereichen einer – auch von Beschäftigten gewünschten – Flexibilisierung entgegen. Ebenso für längere Dienstreisen sollten – unabhängig von der Einordnung als Arbeitszeit – Abweichungsmöglichkeiten vorgesehen werden. Das seit langem reformbedürftige Arbeitszeitgesetz muss angepasst und nicht nur isoliert um eine Erfassungspflicht erweitert werden. Die andernfalls bestehenden Bußgeldrisiken wären vor dem Hintergrund der vielfach unklaren rechtlichen Situation nicht haltbar.

Das Verständnis von “Arbeit” wird unsere Gesellschaft und das Rechtssystem in Zukunft beschäftigen, da sich Arbeitsformen wandeln und neue Antworten gefunden werden müsse. Der Gesetzgeber muss aber schnellstmöglich seinen Beitrag für mehr Rechtssicherheit durch die Festlegung allgemeiner Kriterien und eine überfällige Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes leisten.

Dr. Thomas Köllmann, RA/FAArbR, ist Partner bei Küttner Rechtsanwälte in Köln. Zu seinen Beratungsschwerpunkten zählen betriebsverfassungsrechtliche Fragestellungen, das Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst sowie die Beratung im Bereich des Beschäftigtendatenschutzes und Themen rund um die Arbeitswelt 4.0.

 
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