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SRNL 2022, 11
Voitzsch 

Arbeitszeiterfassung oder New Work?

Von Sebastian Voitzsch, Münster

Abbildung 11

Arbeitszeiterfassung im Homeoffice?

Wie ein Paukenschlag hat im September die Nachricht des Bundesarbeitsgerichts eingeschlagen: Die Arbeitgeber sind – auch ohne weitere Umsetzung durch den Gesetzgeber – verpflichtet, die Arbeitszeit zu dokumentieren und ein System einzuführen, welches geeignet ist, die täglich geleistete Arbeitszeit eines jeden Mitarbeiters verlässlich zu erfassen (Beschluss vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21). Diese Entscheidung ist in einem Verfahren gefallen, in dem es eigentlich „nur“ darum ging, die Frage zu klären, ob der Betriebsrat ein Initiativrecht hat, um solche Erfassungsmöglichkeiten im Betrieb einzuführen. Das BAG lehnt ein Initiativrecht mit der Begründung ab, der Arbeitgeber sei schon von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, ein solches System einzuführen – und wirft damit einige Probleme auf, die zudem ein überkommenes Bild der Arbeitswelt aufzeigen.

Das erste Problem der Entscheidung resultiert daher, dass das BAG die Verpflichtung zur Einführung der Zeiterfassung aus dem Arbeitsschutzgesetz ableitet: „Arbeitgeber sind nach § 3 Absatz II Nummer 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Absatz I RL 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Artikel 3, 5 und 6 Buchst. b dieser Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat.“, so liest sich der amtliche Leitsatz der Entscheidung. Die Crux dabei: Die Anwendungsbereiche des Arbeitszeitgesetzes und des Arbeitsschutzgesetzes sind nicht deckungsgleich. § 18 ArbZG sieht Ausnahmen für leitende Angestellte und Chefärzte sowie weitere Personengruppen vor, die im Arbeitsschutzgesetz nicht vorhanden sind. Damit nicht genug: Die Entscheidung des BAG nimmt Bezug auf die europäische Arbeitszeitrichtlinie und das europäische Arbeitsrecht. Der Arbeitnehmerbegriff des EuGH ist umfassender als der im deutschen Arbeitsrecht und umfasst auch Personengruppen wie leitende Angestellte, Chefärzte und – zumindest punktuell – auch organschaftliche Vertreter wie Fremdgeschäftsführer. Auch für diese gilt – nimmt man die Argumentation des BAG ernst – die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit und damit auch die wöchentliche Höchstarbeitsgrenze von 48h. Die im deutschen Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Ausnahmen wären damit für einen Großteil der Betroffenen nicht mehr relevant. „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ – einer Umsetzung bedarf es dabei nicht, weil sich diese Verpflichtung aus den bereits bestehenden Gesetzen und Regelungen ergibt.

Ein zweites Problem betrifft die Vorgaben bezüglich des Umfangs der Zeiterfassung. „Das geforderte System darf sich – trotz des vom Gerichtshof verwendeten Begriffs der ‚Messung‘ – dabei nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu ‚erheben‘. Diese Daten müssen vielmehr auch erfasst und damit aufgezeichnet werden (…). Anderenfalls wären weder die Lage der täglichen Arbeitszeit noch die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar (…). Auch eine Kontrolle durch die zuständigen Behörden wäre sonst nicht gewährleistet“, so das BAG in der zitierten Entscheidung. Bedeutet: Es genügt nicht, SRNL 2022 S. 11 (12)wenn die „üblichen Arbeitszeiten“ dokumentiert werden, sondern es geht tatsächlich darum, wie viele Stunden an jedem einzelnen Tag wann gearbeitet wurden und welche Pausen zu welchen Zeiten gemacht wurden.

In einem Produktionsbetrieb, an einem Fließband ist eine solche Kontrolle ohne größere Schwierigkeiten möglich – ohnehin gibt hier das Band den Takt vor, nach dem sich die Mitarbeiter:in zu richten hat. Schon im Büro wird das schwieriger – was ist mit den Zeiten, in denen die Mitarbeiter:in sich einen Kaffee holt, zur Toilette geht oder die neuesten Neuigkeiten mit seinen bzw. ihren Büronachbar:innen austauscht? Das mag einem kleinlich erscheinen – insbesondere die Toiletten- und Kaffeepausen werden wohl in den meisten Büros übergangen und niemand wird ernsthaft verlangen, dass die Mitarbeiter:innen die Zeiterfassung stoppen, wenn sie in die Kaffeeküche gehen.

Betrachtet man aber eine weitere Gruppe von Arbeitsplätzen, die sich in der letzten Zeit – zuweilen gezwungenermaßen – einer immer größeren Beliebtheit erfreut, erkennt man das eigentliche Problem: die Mitarbeiter:innen im Homeoffice. Dies wird gern in Anspruch genommen, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Zwischen zwei Telefonaten wird eine Waschmaschine oder die Spülmaschine angestellt, der Nachwuchs aus der Kita abgeholt oder ihm ein Essen zubereitet oder es werden pflegebedürftige Angehörige umsorgt, danach folgt die nächste Videokonferenz. Bisher gilt hier wohl in den meisten Fällen: Solange das Ergebnis passt, spielt die dafür aufgewandte Zeit eine eher untergeordnete Rolle – und zwar für beide Seiten. Wenn der Tag mal weniger als 8 Stunden hat, ist das für den Arbeitgeber kein Problem; umgekehrt setzt man sich vielleicht auch abends um 22 Uhr noch mal an den Rechner, um ein paar Mails durchzusehen, die man im hektischen Tag bisher nicht geschafft hat. Flexible Arbeitszeiten und -orte ermöglichen es, den Tag frei zu strukturieren und Beruf und Privatleben miteinander zu vereinbaren.

Die wenigsten möchten wohl, dass ihnen ihr Arbeitgeber beim exakten Tagesablauf über die Schulter schaut und minutiös dokumentiert, wann gearbeitet wurde und wann nicht. Auch aus datenschutzrechtlicher Sicht wirft eine Arbeitszeiterfassung, wie sie das BAG hier propagiert, erhebliche Fragen auf, weil in solchen Szenarien die Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben verwischen und die Aufzeichnung des einen gleichsam eine Kontrolle des anderen bedeutet.

Nun ist diese Entscheidung nicht allein die „Schuld“ des BAG – es ist – wie die zahlreichen Verweise auf EU-Vorschriften belegen – allein darum bemüht, den Gleichklang zwischen deutschem und europäischem Arbeitsrecht herzustellen. Und hier herrscht offenbar ein Bild der Arbeitswelt vor, welches eher an den Beginn der Industrialisierung denn an New Work 2.0 erinnert: „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann (…). Ebenso ist festzustellen, dass ein Arbeitnehmer aufgrund dieser schwächeren Position davon abgeschreckt werden kann, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können.“ Das vorstehende Zitat stammt aus dem Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 14.5.2019 – C-55/18 (Federación de Servicios de Comisiones Obreras [CCOO] / Deutsche Bank SAE).

Angesichts von, nicht zuletzt durch Corona etablierten, Arbeitsplatzgestaltungen wie Homeoffice, flexiblen Arbeitszeitmodellen bis hin zum „Workation“-Modell und einem Markt, in dem die Mitarbeiter:innen an vielen Stellen die Bedingungen diktieren, zu denen sie die Stelle eventuell antreten, wirkt das klassische David-Goliath-Modell des EuGH einigermaßen antiquiert. Wobei selbstverständlich zugestanden sein soll, dass es durchaus Branchen und Beschäftigungszweige gibt, in denen die Einschätzung des EuGH durchaus zutreffend ist, und die Mitarbeiter des vom EuGH vorgesehenen Schutzes durchaus bedürfen.

Indes: Die vom EuGH vorgegebenen Regeln gelten für alle. Und auch die Entscheidung des BAG gibt Regeln für nahezu alle Bereiche gleichermaßen vor, ohne danach zu differenzieren, ob sie im konkreten Fall sinnvoll oder auch nur nötig sind. Nachdem die Arbeitgeber zusammen mit ihren Beschäftigten in den letzten zwei Jahren recht eindrucksvoll gezeigt haben, welche kreativen Lösungen und Modelle im Bedarfsfall mehr oder weniger ad hoc möglich sind, ist es nicht recht verständlich, wenn in solchen Entscheidungen alle Arbeitgeber und alle Beschäftigungsverhältnisse einheitlich behandelt werden. Und ferner Grundlagenentscheidungen getroffen werden, die zum einen zahlreiche Folgeprobleme aufwerfen und zum anderen weder den Arbeitgebern noch den

Arbeitnehmern weiterhelfen. Risiken birgt die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit für beide Seiten: Der Vollzeitarbeitnehmer, der ins Homeoffice geht, um sein krankes Kind zu betreuen und hier 8h Arbeitszeit unterbrochen nur von 30min Mittagspause aufzeichnet, hat mit recht hoher Wahrscheinlichkeit Arbeitszeitbetrug begangen, wenn die Pausen, die zur Betreuung des kranken Kindes gemacht wurden, aus den Aufzeichnungen nicht erkennbar sind. Es wird Zeit, dass sich New Work 2.0 auch zu den Gerichten herumspricht.

Abbildung 12

Sebastian Voitzsch ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Nach zweijähriger Tätigkeit in einer ehemaligen OLG-Kanzlei, die seine vorhandene Vorliebe für alle Bereiche der Prozessführung weiter verstärkt hat, gehört er seit 2009 zum Team der MÖNIG Wirtschaftskanzlei. Hier vertritt er die Bereiche (Insolvenz-)Arbeits- und Prozessrecht. Da der beste Prozess, der ist, der nicht geführt werden muss, berät und vertritt er Mandanten auch ohne bzw. zur Vermeidung gerichtlicher Auseinandersetzungen.

SRNL 2022 S. 11 (13)

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