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ZLR 2021, 585
 

Die Karten werden neu gemischt: wohin geht die Reise in Sachen Lebensmittelpolitik?

Kernforderungen aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 und die Konstellation der danach gebildeten neuen Bundesregierung wird auch und gerade auf die Ausgestaltung der künftigen Lebensmittel- und Ernährungspolitik in Deutschland erhebliche Auswirkungen haben. Die Themen “Lebensmittel, Ernährung, Gesundheit” sind in Verbindung mit “Umwelt und Nachhaltigkeit” neben Fragen der sozialen Gerechtigkeit in den letzten Jahren in den zentralen Fokus des gesellschaftlichen Interesses und der öffentlichen Diskussion gerückt. Trotz zum Teil hoher Komplexität von Detailfragen besteht für diese Themen kraft eigener, täglicher, unmittelbarer Betroffenheit eine besondere Sensibilisierung der Verbraucherinnen und Verbraucher und eine hohe emotionale Betroffenheit, die wiederum auf die politische Bühne durchschlägt. Dies führt dazu, dass die zum Teil sehr heftig geführte politische Auseinandersetzung über die Ausgestaltung der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die deutsche Lebensmittelwirtschaft nicht zuletzt mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von besonderer Bedeutung ist. Dabei geht es perspektivisch vor allem um die Frage der einzuschlagenden Lösungswege, insbesondere um die Frage, wie weit der Staat im Wege von verbindlichen Regulierungsvorgaben in die Unternehmenssphäre eingreifen soll bzw. ob und inwieweit der Lebensmittelwirtschaft auch weiterhin Spielräume bei der inhaltlichen Ausgestaltung von gemeinsamen Lösungswegen durch eigene Initiativen oder freiwillige Selbstverpflichtungen eingeräumt werden. Ziel der Lebensmittelpolitik muss es gerade mit Blick auf die Pandemieerfahrungen der letzten 1\2 Jahre sein, die Produktion und Vermarktung von hochwertigen Lebensmitteln am Standort Deutschland zu stärken. Dies erfordert auch in der kommenden Legislaturperiode einen intensiven und konstruktiven Dialog zwischen Lebensmittelwirtschaft und Politik!

Vor diesem Hintergrund hat der Lebensmittelverband Deutschland als Dialoggrundlage mit der Politik im Vorfeld der diesjährigen Bundestagswahl wieder ein politisches Grundsatzprogramm der Lebensmittelwirtschaft vorgelegt, das erneut den Titel “Behalte die Wahl!” trägt und von den drei Leitmotiven Sicherheit, Nachhaltigkeit und Verantwortung getragen wird.1

Darin wird zunächst noch einmal verdeutlicht, dass sich die Lebensmittelwirtschaft in der COVID-19-Pandemie als sehr leistungsfähig sowie krisenbeständig erwiesen und damit einen bedeutsamen Beitrag zur Gewährleistung der VersorZLR 2021 S. 585 (586)gungssicherheit mit Lebensmitteln in Deutschland geleistet hat (und noch immer leistet). Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Pandemiefolgen große Bereiche der Lebensmittelwirtschaft wie das Gastgewerbe und den Außer-Haus-Markt einschließlich der Zulieferbranchen hart, zum Teil sogar existentiell, getroffen haben. Dadurch haben die Spielräume zur Finanzierung von Investitionen in Nachhaltigkeit, Innovationen und Zukunftstechnologien zum Erhalt bzw. zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sehr gelitten. Dies müssen die Bundesregierung und die neue Regierungskoalition auf nationaler wie auf europäischer Ebene bei der Ausgestaltung der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen angemessen berücksichtigen.

Die deutsche Lebensmittelwirtschaft erkennt die in den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) adressierten Fragestellungen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an und ist bereit, ihren aktiven Beitrag für eine noch nachhaltigere Erzeugung, Veredelung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln zu leisten. Gerade bei der Umsetzung des Green Deal sowie der Vom Hof auf den Tisch-Strategie und der damit bezweckten Transformation zu noch nachhaltigeren Lebensmittelsystemen muss allerdings mit Blick auf die adäquate Bewältigung der Pandemiefolgen auch der große Bereich der mittelständischen Lebensmittelwirtschaft mitgenommen werden.

Unverzichtbar ist daher, dass mit Blick auf das angestrebte nachhaltigere Wirtschaften entlang der Wertschöpfungskette alle Säulen der Nachhaltigkeit einbezogen und auftretende Zielkonflikte zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen angemessen gelöst werden. Objektive und wissenschaftlich valide Kriterien sind dabei unabdingbar für eine angemessene Priorisierung bzw. Gewichtung der vielfältigen Nachhaltigkeitsziele und deren Umsetzung in die Praxis. Die Ausgestaltung nachhaltigerer Lebensmittelsysteme muss mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbar sein, sämtliche Unternehmensgrößen berücksichtigen und an den Zielen der Agenda 2030 orientiert sein. Nur bei Berücksichtigung dieser Parameter und der Einbindung aller gesellschaftlichen Akteure in einen dialogorientierten Prozess können die ins Visier genommene Entwicklung zu einer nachhaltigeren Lebensmittelwirtschaft erfolgreich gestaltet und Kollateralschäden vermieden werden.

Des Weiteren müssen Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit im europäischen Binnenmarkt in aller Regel durch europaweit einheitliche, harmonisierte Regelungen gewährleistet werden, um einheitliche Wettbewerbsbedingungen für die Lebensmittelunternehmen und ein einheitliches Verbraucherschutzniveau sicherzustellen. Die vermehrt zu beobachtenden nationalen Alleingänge der Mitgliedstaaten oder eine über die EU-Vorgaben hinausgehende Umsetzung des Unionsrechts fördern hingegen eine Rechtszersplitterung zulasten der Lebensmittelwirtschaft, der entschieden entgegenzutreten ist. Ferner sind bei Schaffung neuer oder der Änderung bestehender Vorgaben stets Folgenabschätzungen durchzufüh-ZLR 2021 S. 585 (587)ren und die Beteiligungsrechte der Wirtschaft strikt zu wahren, um dem Regelungsgeber eine sorgfältige, umfassende und realitätsnahe Bestandsaufnahme sämtlicher Fakten zu ermöglichen und praxisfremde Lösungen zu vermeiden.

Mit Blick auf die Lebensmittelkontrollen in Deutschland weist die Lebensmittelwirtschaft vor allem darauf hin, dass die Aufgaben und Zuständigkeiten der amtlichen Lebensmittelüberwachung in den letzten Jahren immer mehr ausgeweitet wurden, ohne dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen in den Bundesländern adäquat mitgewachsen und die bestehenden Strukturen angepasst wurden. Diese Tendenz droht im Vollzug zunehmend zu rechtsstaatlichen Defiziten zu Lasten der Unternehmen zu führen, was nicht akzeptabel ist. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Befähigung und Stärkung der Kapazitäten der amtlichen Überwachung zur Durchführung der vorgesehenen Regel- und Anlasskontrollen, d. h. des Regelvollzugs, in jedem Fall vorrangiger als die Übertragung zusätzlicher (Informations-) Aufgaben auf die Überwachung. Jede politisch gewollte Ausweitung der Aufgaben der amtlichen Lebensmittelüberwachung, z. B. die verbindliche Einführung einer bewertenden behördlichen Veröffentlichung von Kontrollergebnissen in den Unternehmen (Smiley, Kontrollbarometer, Hygieneampel), setzt dagegen zwingend eine adäquate Aufstockung der zur Verfügung stehenden Ressourcen voraus, um im Vollzug rechtsstaatlichen Defiziten schon im Ansatz vorzubeugen.

Schließlich spricht sich die Lebensmittelwirtschaft im Hinblick auf die Ausgestaltung von Angeboten zur Verwirklichung des individuellen Ernährungs- und Lebensstils der Verbraucherinnen und Verbraucher für marktbasierte Ansätze aus. Sie befürwortet nach wie vor das gängige Leitbild des “durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers” als normativen Maßstab für die Rechtsetzung, weil es eine angemessene Balance zwischen dem berechtigten Schutz vor Täuschung auf der einen Seite und Mitverantwortung, Selbstbestimmung bzw. Souveränität der Verbraucherinnen und Verbraucher auf der anderen Seite gewährleistet. Demgemäß setzt die Lebensmittelwirtschaft vornehmlich auf die Instrumente Information, Kennzeichnung sowie Verbraucheraufklärung bzw. –bildung als zentrale Bausteine für bewusste und verständige Kaufentscheidungen. Lenkende staatliche Eingriffe in den Lebensmittelmarkt wie Rezepturvorgaben, Werbeverbote oder Sondersteuern zur Steuerung des Konsumverhaltens werden hingegen als Widerspruch zum Prinzip der Marktwirtschaft ebenso wie zum Menschenbild des Grundgesetzes und zum Grundgedanken einer freiheitlichen Gesellschaft abgelehnt. Bestehende, mit der Lebensmittelwirtschaft abgeschlossene freiwillige Vereinbarungen, z. B. im Rahmen der Nationalen Reduktions- und Innovationstrategie oder des “EU-Verhaltenskodex” (“EU Code of Conduct for Responsible Business and Marketing Practices”) zeigen, dass gemeinsam mit der Wirtschaft entwickelte Lösungen funktionieren und in einer Marktwirtschaft staatlichen Zwangsmaßnahmen vorzuziehen sind.

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Die Vielzahl der anstehenden Ernährungs- und Lebensmittelthemen – gerade auch mit Blick auf die erwähnte Umsetzung des Green Deal sowie der Vom Hof auf den Tisch-Strategie – bietet in jedem Falle genügend Diskussionsstoff für den gewünschten konstruktiven Dialog mit der neuen Bundesregierung zu den vorerwähnten Punkten in der kommenden Legislaturperiode.

Rechtsanwalt Dr. Marcus Girnau

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Das vollständige Grundsatzprogramm ist unter dem Link: www.behaltediewahl.de öffentlich abrufbar.

 
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