Reformbedarf in der Organhaftung? Von übertriebenen Erwartungen und ernüchternder Realität
Das Thema Organhaftung ist ein “Dauerbrenner” im deutschen Gesellschaftsrecht. Auch der kommende Deutsche Juristentag wird sich in seiner Abteilung Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht wieder mit der Haftung der Leitungsorgane einer Gesellschaft, insbesondere in der AG, beschäftigen (Gutachter: Prof. Dr. Gregor Bachmann, Berlin). Ohne Übertreibung kann dieses Thema bis in die Anfänge der juristischen Person zurückverfolgt werden. Die systembedingte Crux der deutschen Organhaftung in der AG bestand seit jeher darin, dass grundsätzlich der Aufsichtsrat die Haftung des Vorstands geltend machen muss – was letztlich ein Eingeständnis eigener Überwachungsfehler ist. Hinzu kam lange Zeit ein recht weit gezogener Schirm von Rechtfertigungen, die der Aufsichtsrat dafür anführte, dass er von Sanktionen absah, insbesondere die Abwendung von Schädigungen der Reputation des Unternehmens. Erst in jüngerer Zeit hat die Organhaftung außerhalb der Insolvenzverschleppung größere Beachtung durch Impulse einerseits aus der Rechtsprechung, andererseits aus Reformen durch den Gesetzgeber gefunden – nicht zuletzt auch durch die Finanzmarktkrise und die teilweise eklatanten Managementfehler.
Zwar hat der BGH in seiner ARAG/Garmenbeck-Entscheidung diesen Argumentationslinien des Aufsichtsrats einen Riegel vorgeschoben. Ebenso hat der Gesetzgeber die Aktionärsklage in § 148 AktG ab einem bestimmten Quorum eingeführt. Dennoch spielt diese in der Praxis bislang nur eine geringe Rolle, da die Anreize für die Kläger immer noch gering sind, der Aufwand dagegen hoch – zumal die Beschaffung von relevanten Informationen gleichfalls mühselig ist. Ob es allerdings jemals gelingt, eine vernünftige Balance zwischen ausreichenden Anreizen für Aktionärsklagen und einer nicht zu starken Abschreckungswirkung für die Organe zu finden, erscheint offen.
Auf materiell-rechtlicher Ebene hat die Einführung der Business Judgement Rule in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG für eine wahre Flut an Veröffentlichungen (und Beratungen) gesorgt. Häufig missinterpretiert als eine “Safe Harbor Rule” deckt die Business Judgement Rule zwar das Problemfeld unternehmerischer Entscheidungen ab; doch verlagern sich die Fragen nur auf die Auslegung des Begriffs “angemessener Information”, für den die Rechtsprechung völlige Kontrolle beansprucht – ohne dass offenbar realisiert wird, dass auch die Informationsbasis letztlich eine kaufmännische Entscheidung über Kosten und Nutzen einer Information bedingt. Deswegen verwundert es nicht und verdient im Grundsatz Zustimmung, dass jüngst darüber nachgedacht wird, die Business Judgement Rule in eine Art “grober Fahrlässigkeit” umzuinterpretieren oder die Organe in den Genuss arbeitsrechtlich geprägter Haftungserleichterungen kommen zu lassen.
Aber nicht nur die materiell-rechtliche und prozessuale Seite der Organhaftung sorgen für Streitstoff, sondern auch die versicherungsrechtliche Seite: Seit dem Aufkommen von D&O-Versicherungen und der Übernahme der Prämien durch die Gesellschaften fragt man sich immer mehr, ob die behaupteten Präventionseffekte einer Haftung tatsächlich eintreten können. Der Gesetzgeber hat zwar versucht, mit einer komplexen Regelung für Selbstbehalte dem Trend entgegenzuwirken – er kann es jedoch nicht verhindern, dass Organe die entstehende Versicherungslücke durch eigene Versicherungen abdecken und deren Prämien im Rahmen ihrer Vergütung wieder einfordern, so dass der Gesamteffekt neutralisiert wird. Mitunter erhält man zudem in der Praxis den Eindruck, dass die Koppelung der gesellschaftsrechtlichen Haftung mit dem Vorwurf der strafrechtlichen Untreue ein wesentlich schärferes Schwert zu sein scheint. Ob eine Pönalisierung unternehmerischen Handelns indes der richtige Weg ist, erscheint mehr als zweifelhaft.
Ob und wie tatsächlich die Organhaftung die von ihr erhofften Präventiveffekte entfaltet, ist daher immer noch eine völlig offene Frage, die empirisch bislang wenig aufgearbeitet wurde – was aber dringend erforderlich erscheint, wenn eine Reform gelingen soll, die unternehmerischen Prognose- und Entscheidungsspielraum vereinbart mit den nötigen Sanktionen für Fehlverhalten.
Hält man sich die Entwicklung der Organhaftung vor Augen, erscheint deren Reform wie eine Sisyphos-Arbeit, bei der man sich unwillkürlich fragt, ob sich die stetige Verfeinerung wirklich lohnt. Versagen aber negative Anreize, stellt sich die Frage, ob nicht eine langfristige positive Anreizsetzung besser geeignet ist, insbesondere die Verbindung einer Organvergütung mit Erfolgen wie auch Verlusten. Zwar hat im Gefolge der Finanzmarktkrise die Entlohnung mit Stock Options viel von ihrem Charme verloren – doch lag und liegt dies an den gewählten Berechnungsmethoden und der Langfristigkeit von Haltefristen. Möchte man einen Gleichklang von Verantwortung und Haftung, wie ihn die Freiburger Schule seit jeher forderte, ist eine Motivation über Vergütung allemal besser als die weitere Ausformung einer Organhaftung.
Prof. Dr. iur. Dipl.-Ök. W. Gerald Spindler ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Er ist Autor in zahlreichen Kommentaren zum AktG und GmbHG, insbesondere zum Vorstandsrecht im Münchner Kommentar zum AktG und hat sich insbesondere mit Fragen der Unternehmensorganisationspflichten sowie der Haftung der Organmitglieder befasst.