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ZFWG 2023, 1
Reeckmann 

Prävention: Flucht in die Bürokratie (?)

Abbildung 1

Regulierer sind nicht zu beneiden. Im Glücksspielwesen ist der Legitimationsdruck für eine freiheitsbeschränkende Regulierung seit dem Sportwettenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.3.20061 und der dort in den Fokus genommenen Spielsuchtprävention nicht kleiner geworden und wird noch von externen Themen wie der Geldwäscheprävention flankiert.

Die Normgeber haben reaktiv das Regelwerk massiv erweitert. Normgeber sind hier nicht nur die Bundes- und Landesparlamente in Deutschland mit Gewerbeordnung, Geldwäschegesetz, Glücksspielstaatsvertrag und Ausführungsgesetzen der Länder, sondern auch die Ministerien in Bund und Ländern mit Rechtsverordnungen, ferner die Financial Action Task Force (FATF) mit ihrem so genannten Soft-Law (dessen Wirkung knallhart ist) und nicht zuletzt die EU mit Richtlinien und Verordnungen. Dieses Konglomerat aus Urhebern hat ein Normensystem produziert, dass es quantitativ und qualitativ in sich hat:

Das Suchwort „Glücksspiel“ fördert bei beckonline 80 Verordnungen, 23 Richtlinien und 28 Entscheidungen der EU hervor, zudem alte und neue Gesetze des Bundes (39) und der Länder (1.268); hinzu kommen 333 alte und neue Rechtsverordnungen der Länder. Insbesondere die Aufsteller von Geldspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten sowie die sie begleitenden Suchtpräventionsdienstleister können ein Lied von der föderalen Vielfalt singen. Blickt man auf den GlüStV, so hat sich dieses länderübergreifende Teilwerk der Glücksspielregulierung von 29 Paragraphen im GlüStV 2008 zu 75 Paragraphen im GlüStV 2021 gemausert. Ähnliches lässt sich für das Geldwäscherecht konstatieren: Das erste GwG aus dem Jahre 1993 kam noch mit 18 Paragraphen aus; aktuell weist das 2017 neu gefasste GwG bereits 68 Paragraphen sowie zwei Anlagen auf. Das GwG hat seit seiner Erstfassung über 40 Änderungen erfahren, mithin mindestens eine pro Jahr. Wohl dem, der bei diesem Wust an Regelungen noch den Blick für wirksame Prävention behält, die Spielsucht und Geldwäsche entgegenwirken sollen – und dies in der betrieblichen Praxis, denn es sind die vom Gesetzgeber in die Pflicht genommenen Unternehmen, die präventiv handeln sollen.

Beide Regelwerke wurden aber auch qualitativ erweitert mit zunehmenden Anforderungen an Spielsuchtprävention und Geldwäscheprävention: Es müssen basierend auf Risikoeinschätzungen Konzepte erstellt, Präventionsbeauftragte bestellt, Schulungen durchgeführt, Maßnahmen und Vorgänge dokumentiert, auf dieser Grundlage berichtet und evaluiert werden. Flankiert werden die Vorgaben mit Bußgeldtatbeständen, deren Zahl von 0 auf 58 im GlüStV und von 7 auf 81 im GwG gewachsen ist. Das mag den Normgebern das Gefühl geben, Vorzeigbares zum Schutz von Verbrauchern und Gesellschaft geleistet zu haben. Als Berater bei Präventionsleistungen kann man sich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass die Fülle der bußgeldbewehrten Dokumentations- und Berichtspflichten auf Seiten der verpflichteten Unternehmen schlichtweg zur Sanktionsvorbeugung führt – manche, für die Praxis vor Ort bereitgestellte Formularbögen sprechen Bände.

Die standardisierende Wirkung gut durchdachter Formulare kann ihr Gutes haben – im günstigen Falle fördern Formulare Nachvollziehbarkeit, Vergleichbarkeit und Evaluation. Das ist aber keineswegs selbstverständlich – im ungünstigen Falle fördern Formulare Effekte der Tonnenideologie2: Wie immer, wenn erwartete Erfolge und Fortschritte berichtet werden sollen, werden auch Zahlen bemüht. Zahlen vermitteln Messbarkeit und Genauigkeit. Wie aber werden bei Präventionsaufgaben Erfolge definiert und gemessen, wo liegen Möglichkeiten der Messbarkeit von Präventionsleistungen? Liegen die verschiedenen Risikofaktoren im Einflussbereich der verpflichteten Unternehmen? Sind Risikofaktoren unveränderlich – oder vielmehr veränderlich, und müssen Präventionskonzepte ZfWG 2023 S. 1 (2)dann nicht so lernfähig sein wie ihre Anwender in Spielstätten? Dienen Dokumentation und Berichte nur der Exkulpation, oder spiegeln sie veränderliche Erkenntnisse wider, die Entwicklungen der Prävention in Spielstätten aufzeigen? Wird im letzten Fall das Potenzial von Dokumentation und Berichten – bei Glücksspielanbietern und Aufsichtsbehörden – erkannt und – jenseits von Sanktionsdrohungen – gefördert?

Normgeber und Aufsichtsbehörden sollten darauf achten, dass das „Nachschärfen“ der Vorgaben für Präventionsaufgaben nicht Effekte begünstigt, die wirksamem präventiven Denken und Handeln der mit Präventionsaufgaben betrauten Glücksspielanbieter entgegenstehen. Die Umsetzung von regulatorischen Vorgaben durch die sich etablierende Formularpraxis sollte sich daran orientieren, dass Dokumentation und Berichte zur Evaluation mit Blick auf offene Entwicklungen von Präventionsleistungen genutzt werden können.

Martin Reeckmann, Berlin*

1

BVerfG, Urt. v. 28.3.2006, 1 BvR 1054/01, ZfWG 2006, 16.

2

Lt. Wikipedia wird Tonnenideologie abwertend als eine Produktionsplanung bezeichnet, die ausschließlich einfache, messbare und summierbare Größen vorgibt, ohne dass Nachfrage, Nutzen oder Qualität eine Rolle spielen.

*

Auf Seite III erfahren Sie mehr über den Autor.

 
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